Geschichtlicher Rückblick

In schlimmster Weise vergeht man sich gegen das Recht des geschichtlich Gegebenen, und überhaupt gegen jedes menschliche Recht, wenn man Völkerschaften das Recht auf das Land, das sie bewohnen, in der Art nimmt, daß man sie zwingt, sich anderswo anzusiedeln. Daß sich die Siegermächte am Ende des Zweiten Weltkrieges entschlossen, vielen hunderttausend Menschen dieses Schicksal, und noch dazu in der härtesten Weise, aufzuerlegen, läßt ermessen, wie wenig sie sich der ihnen gestellten Aufgabe einer gedeihlichen und einigermaßen gerechten Neuordnung der Dinge bewußt wurden.

 

Albert Schweizer, bei der Friedensnobelpreisverleihung 1954

 

 

Die Vertreibung von über 15 Millionen Deutschen aus Ostdeutschland, Ost- und Südosteuropa 1945 - 1947 war die größte Völkervertreibung der Weltgeschichte. Noch nie in der Geschichte wurde eine so große Volksgruppe zu Menschen ohne Menschenrechte gemacht. Über 2,5 Millionen kamen dabei auf schlimmste Weise zu Tode.

 

Der amerikanische Historiker und Völkerrechtler Alfred M. de Zayas schreibt in der Einführung zu seinem Buch „Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen“: „Das menschliche Elend, das diese Umsiedlung vor allem in den Jahren 1945 - 1948 hervorrief, gehört zu den schlimmsten Kapiteln des zwanzigsten Jahrhunderts, und es ist eigentlich erstaunlich, daß dreißig Jahre nach dem Krieg außerhalb Deutschlands so wenig bekannt ist.“ Dem ist nur hinzuzufügen, daß 52 Jahre nach Kriegsende auch in Deutschland weitgehende Unkenntnis vorherrscht.

 

Bereits Monate vor Kriegsende war ein Teil der deutschen Bevölkerung aus den Siedlungsgebieten im Osten und Südosten Europas vor den Sowjetarmeen in den Westen geflohen. Gleich nach der Kapitulation fanden Vertreibungen, insbesondere aus den deutschen Ostgebieten und aus dem Sudetenland, statt. Es waren nicht die Schuldigen am Zweiten Weltkrieg, es waren überwiegend Frauen, Kinder und Greise, die der schon lange vorher geplanten „ethnischen Säuberung“ zum Opfer gefallen sind.

 

Grundlage für die Vertreibung der Deutschen war das Potsdamer Abkommen der Siegermächte vom 02. August 1945. In Güter- und Viehwaggons, ohne Verpflegung und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen mußten sie ihre angestammte Heimat verlassen. Die zurückbleibenden bzw. zurückgehaltenen Deutschen wurden größtenteils verschleppt, in Lagern untergebracht oder waren anderen Repressalien ausgesetzt. Hierzu zählten nicht nur Enteignungen, Verhöre und Verhaftungen, sondern auch Erschießungen, Rechtlosigkeit und Willkür jeder Art. Deshalb hält der Zustrom von Vertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern, besonders aus den Gebieten der früheren Sowjetunion, auch heute noch an.

 

Karlsruhe, obwohl stark zerstört, war Ziel und Zufluchtsort Tausender Vertriebener. Die ersten deutschen Flüchtlinge - 360 Donauschwaben - aus dem ehemaligen Jugoslawien trafen am 22. Juli 1945 in Karlsruhe ein. Sie wurden in der Knielinger Kaserne untergebracht und von der durch die Allierten zur Betreuung der DP’s (Displaced Persons = Verschleppte Personen) geschaffenen Organisation UNRRA (Unidet Nations Relief and Rehabilitation Administration) betreut und mit den gleichen Rationen wie die in der gleichen Kaserne untergebrachten Zwangsarbeiter versorgt.

Die anfangs recht gute Behandlung in Knielingen verdankten die Flüchtlinge mit großer Wahrscheinlichkeit dem Umstand, daß die Amerikaner diese Leute längere Zeit nicht einzuordnen wußten. Für sie war die Staatsangehörigkeit (Jugoslawien) maßgebend. Der Begriff „Volksdeutsche“ war ihnen ein Fremdwort.

 

Kurze Zeit später, am 24. November 1945 , wurden sämtliche Flüchtlinge in die Artilleriekaserne an der Moltkestraße umquartiert. Mit der Verlegung der Flüchtlinge von der Knielinger in die Artilleriekaserne war die Verantwortung für die Versorgung der zunächst 2.000, dann aber bald auf 5.000 Personen anschwellenden Zahl von Flüchtlingen, auf die Stadt übergegangen. Die Verwandlung der praktisch nicht mehr bewohnbaren Kaserne in eine einigermaßen wohnliche, vor allem aber funktionsfähige Unterkunft für mehrere tausend Menschen war unter den damaligen Verhältnissen eine eben so schwierige wie erstaunliche Leistung. Der vom Oberbürgermeister zum Referenten für das Flüchtlingswesen ernannte Alfred Behnle mit seinen Mitarbeitern haben sich dadurch bleibende Verdienste erworben.

 

Ab dem Spätherbst 1945 kamen immer neue Flüchtlingstransporte nach Karlsruhe. Zur ersten Versorgung der Ankommenden wurde am Karlsruher Hauptbahnhof eine Verpflegungs- und Unterkunftsbaracke zur Aufnahme von 2000 bis 3000 Menschen eingerichtet. Die Bunkerräume unter den Bahnsteigen dienten als Schlafkammern. Bis Ende 1946 belief sich die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen auf 27701 Personen, die sich bezogen auf die Heimatländer wie folgt aufschlüsselten:

n    Tschechoslowakei                                                                    11 953

n    ehemalige deutsche Reichsgebiete östlich der Oder und Neiße    6 946

n    Jugoslawien                                                                              2 346

n    Polen                                                                                        1 841

n    Ungarn                                                                                       966

n    Österreich                                                                                  926

n    Rumänien                                                                                   322

n    Rußland                                                                                     159

n    sonstige Länder                                                                        2 242

 

Für die Stadtverwaltung war die Unterbringung, Versorgung und Eingliederung Tausender von Vertriebenen eine Aufgabe, deren Bewältigung die äußerste Anspannung der Verantwortlichen erforderte. Karlsruhe hat im Laufe der Jahre über 65 000 Vertriebene, Flüchtlinge und Spätaussiedler aufgenommen und eingegliedert, mit dem Landkreis sind es über 110 000 Personen.

 

Den Vertriebenen und Flüchtlingen war das schwere Los zuteil geworden, sich Tag um Tag jeweils ein weiteres Stück der neuen Umwelt ihrem Verständnis einzufügen. Das Leben zwang sie und ihre Familien, die Scheu vor dem Fremden abzulegen. Die Fremdheit mußten sie eigentlich als doppelte Last tragen, denn man hatte ihnen einst daheim diese Welt, in die sie jetzt geraten waren, in nur verklärtem Licht gezeigt. Hinzu kam noch, daß man sie auch ihre eigene Fremdheit für diese Welt spüren ließ. So vermag man erst zu ermessen, welcher Seelenkraft und einfacher menschlicher Größe es bedurfte, in dieser neuen Welt heimisch zu werden. Die Mütter hatten sicherlich die schwerste Last zu tragen. Ihre Aufgabe , im allgemeinen Niederbruch ruhender Punkt der Familie sein zu müssen und mit dem anerkannten Familiensinn die Flut der Not von den Notunterkünften und Elendsbehausungen abzulenken, ließ sie, statt niederbrechen, wachsen. Dies muß mit größtem Respekt und Hochachtung auch hier erwähnt werden.

 

Neben dem Familiensinn und dem Willen , sich in dieser Katastrophe zu behaupten, hatten die Vertriebenen und Flüchtlinge auch noch eine alte Erfahrung  im „Sich - Anpassen“ im Flüchtlingsgepäck. Ihre Vorfahren, sie und ihre Kinder wüßten davon ein besonderes Lied zu singen. Und wie daheim, verschlossen sie sich auch hier nicht der Einsicht, daß man sich in das Unabänderliche fügen muß. Da dies aber zu wenig wäre, um Ruhe zu finden, wurde, wie einstens dort, auch hier das nächste Stück des Weges angegangen: der Weg zur neuen Heimat. Zu ihm gehörte und gehört es, wieder am eigenen Herd zu stehen und ein eigenes Dach über dem Kopf zu wissen, das heißt, jenen „verzweifelten Fleiß“ aufzubringen, der vielfach Bewunderung, da und dort auch schon Neid und Mißgunst ausgelöst hat. Die Kirchfeldsiedlung in Neureut dürfte beispielhaft für jene Zeit genannt werden. Auch alle anderen neuen Stadtteile unserer Stadt haben Vertriebene und Flüchtlinge mitgeprägt.

Wenn anfangs viele Vertriebene und Flüchtlinge noch eine Rückkehr in ihre Heimat erwartet hatten, brachten sie nach dem Erlöschen dieser Hoffnung mit ihrem unbeugsamen Willen sich bei uns eine neue Existenz zu schaffen, viel Optimismus und zusätzliche Kraft in die Stadt. Ohne den Einsatz der Vertriebenen wäre der Wiederaufbau des zerschlagenen Rest-Deutschlands, die Stadt Karlsruhe eingeschlossen, ungleich schwieriger gewesen und hätte länger gedauert.

 

 

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Tage der Heimat